Klagelieder 3 - "Ich bin der Mann, der das Elend erfahren hat" - Antrittspredigt 1999 Neustadt an der Donau

 

Liebe Gemeinde,

"Ich bin der Mann, der das Elend erfahren hat" - so beginnt das dritte Stück aus dem Buch Klagelieder.

Dieser Mann war nicht nur Beobachter, er hat Leid und Zerstörung am eigenen Leib erfahren. Die hohen Mauern seiner Heimatstadt Jerusalem hatten nicht standgehalten. Die übermächtigen Feinde brachen eine Lücke in die Stadtbefestigung, drangen ein und brachten unendliches Leid über die Bevölkerung: Gewalt, Plünderung, Zerstörung.

"Ich bin der Mann, der das Elend erfahren hat" - das kann ich von mir nicht ganz sagen. Ich wohne erst seit drei Wochen in Neustadt. Auch hier haben die Mauern nicht gehalten, die sonst Sicherheit und Wohlstand versprachen. Ich war nicht dabei, als der Damm bei Neustadt brach und das Wasser bei vielen von Ihnen Haus, Wohnung und Eigentum beschädigte und vernichtete. Ich sehe nur die Nachwirkungen der Katastrophe.

Ich spüre an Ihnen das Nachbeben des Schrecken, aus dem Grundgefühl des Sicher-Wohnens herausgerissen zu sein. Ich war nicht dabei, aber als Ihr neuer Pfarrer habe ich viel gehört, viele Erzählungen und manche konnten dabei ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Es ist so viel passiert, wie sollen wir uns trösten? "Groß wie das Meer ist das Verderben, wer könnte dich heilen?" fragen auch die vorherigen Klagelieder.

Aber manchmal werden Worte über Tausende von Jahren überliefert, ohne verstanden zu werden, und dann reden sie zur Sache. Plötzlich werden die Worte in uns wach und wir merken, daß wir nicht zum Schweigen verdammt sind. So steht dieser eine Mann in der Gemeinde auf und redet.

Er ist kein Prophet oder ein Priester, das hebräische Wort für Mann heißt hier auch "Junger, kräftiger Mann". So redet er auch auf eine Weise von Gott, die uns erschreckt. Wahrscheinlich würden wir in der Kirche jemanden den Mund verbieten, wenn es nicht in der Bibel stünde. Aber hört selbst:

"Ich bin der Mann, der Elend gesehen hat durch den Stab seines Zorns.
Er hat mich geführt in eine Finsternis, in der kein Licht ist.
Er hat seine Hand gegen mich gewendet und erhebt sie gegen mich Tag für Tag. ...
Ob ich gleich schreie und flehe, er hat sich seine Ohren verstopft vor meinem Gebet.
Er hat meine Wege mit Steinen versperrt, hat krumm gemacht meine Pfade.
Er lauert auf mich wie ein Bär, wie ein Löwe im Versteck.
Er hat mich Irrwege geführt und mich zerfleischt."

Dieser Mann spricht wie einer, der in seiner Kindheit natürlich Psalm 23 gelernt hat - "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln" ... aber nun ist der Hirte zu seinem Feind geworden. Eine tiefe Enttäuschung wird sichtbar, das Vertrauen ist gebrochen worden.

Der Stab und Stecken trösten nicht, sondern schlagen auf ihn ein.

In der Finsternis ist kein Licht und der Mann hat Angst.

Keine gerade rechte Straße, sondern krumme Wege, ja Sackgassen wird er geführt.

Und schließlich: der Hirte, der vor Raubtieren schützen soll, ist selbst zum Bären und Löwen geworden.

Das klingt hart und gewagt. Aber gleichzeitig spricht aus diesen zornigen Worten auch tief empfundener Schmerz.

Bei einer Katastrophe wie hier in Neustadt, versinkt eine vertraute Welt langsam und verwandelt sich zu einem unberechenbaren Chaos.

Wenn ein geliebter Mensch, ein Kind, ein Ehepartner, ein Freund, plötzlich von uns gerissen wird, fallen wir in ein dunkles schmerzhaftes Loch.

Wenn wir ernsthaft und gefährlich erkranken, dann türmt sich vor uns ein unüberwindbar scheinendes Hindernis auf, das erschreckt und Angst macht.

Im Schock bleiben wir erstmal stumm, versuchen zu retten, was zu retten ist, nach einiger Zeit aber kommen die Fragen, die manchmal nicht weniger schmerzen und lähmen.

"Warum gerade ich?" - "warum gerade hier?" - "warum gerade dieser eine von mir geliebte Mensch?"

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Liebe Gemeinde - natürlich habe ich darauf keine Antwort.

Ich habe einmal mit einem Menschen zusammengewohnt, dem übel mitgespielt wurde und ich weiß noch, wie frustrierend es war, ihn sagen zu hören: "die Welt ist böse, ich muß noch härter werden."

So provokativ die Worte des Mannes sind, der in der Gemeinde aufsteht und sagt "Ich bin der Mann, der das Elend gesehen hat" - ich bewundere doch, wie er an Gott hängt wie eine Klette. Wie er sogar in seiner Anklage noch Gott zu überzeugen versucht: Gott - du bist doch der Hirte Israels, was ist mit deinen Verheißungen?

Wenn wir soweit gekommen sind, über uns Leid nachzudenken, dann stehen wir vor diesen zwei Möglichkeiten:

Ist das, was uns zustößt, blinder, wahlloser Zufall und wir müssen nur ein bißchen härter und brutaler werden, um uns in der Welt zurechtzufinden, oder ist es Gott, auch wenn wir nicht verstehen, warum.

Ist das, was uns widerfährt, Schicksal und wir müssen es eben hinnehmen, oder ist es Gott?

Von der Bibel her ist die Antwort eindeutig:

Nicht das Schicksal ist unser Gott, sondern Gott ist unser Schicksal.

Wahrscheinlich können wir uns Glaubende auch gar nicht so einfach zwischen Gott oder dem Schicksal entscheiden, wir hängen ja doch unlösbar an ihm.

Das ist ja das Erstaunliche an Israel, unserem Vorbild: obwohl die Stadt und der Tempel zweimal vollkommen zerstört wurden, obwohl die Juden bis ins Deutschland des 20.Jahrhunderts verfolgt wurden -

Immer noch hängen sie an Gott - sie wissen: Gott ist ihr Schicksal oder es gibt sie nicht mehr. Deshalb ist es beeindruckend in Jerusalem zu sehen, wie an der sog. "Klagemauer", dem Überrest des Tempels, Tag und Nacht hunderte, ja tausende beten.

Zum erstenmal haben ja die Besiegten an ihrem Gott festgehalten. Die Juden von ihrem Gott abzubringen, daran sind die Babylonier, die Ägypter und die Römer gescheitert und haben dabei unendliches Leid über Israel gebracht.

Hören wir weiter auf den jungen Mann, der aufgestanden ist und erzählt, wie es ihm ergangen ist.

Er ging noch einen Schritt weiter, es ist nur ein Schritt von der Klage über Gott zu ihm selber hin:

"Ich vergaß das Glück und dachte:

Meine Hoffnung auf den Herrn ist dahin...

Aber an mein Elend und Verlassenheit zu denken, macht mich bitter und ist wie Gift.

Meine Seele denkt ununterbrochen daran und ist gebeugt in mir.

Liebe Gemeinde, es kommt der Zeitpunkt, an dem wir selber merken, daß die Zeit des Jammerns und Klagen vorbei ist. Dann merken wir, daß wir so nicht weiterleben können. Das, was wichtig war, nämlich laut zu klagen und den Verlust tief zu betrauern, ist irgendwann vorbei. Das Leben soll weitergehen, sagen dann zumindest die anderen. Wie eine Medizin, die man zu lange nimmt, kann der Jammer uns vergiften.

Allerdings müssen wir richtig geklagt haben. Da ist die Bibel und gerade die Klagelieder der richtige Lehrmeister. Da ist Wut, Eifersucht, Verfluchung, aber auch Entsetzen, Müdigkeit, Erschöpfung, alles ist drin und alles sollen wir Gott ins Gesicht sagen. Ungeordnet und wenn es noch so frevelhaft klingt. Die Bibel ist da unser Vorbild. Und niemand kann sagen, wie lange es dauert, zu trauern, außer uns selbst. Wir selbst sind es, die eines Tages sich das Gesicht waschen, sich wieder gut anziehen und sagen:

"Ich vergaß das Glück und dachte:
Meine Hoffnung auf den Herrn ist dahin...
Aber an mein Elend und Verlassenheit zu denken, macht mich bitter und ist wie Gift.
Deshalb will ich mir zu Herzen nehmen:
Die Güte des Herrn ist noch nicht ausgegangen, die Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern ist jeden Morgen neu und deine Treue ist groß.
Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen.
Der Herr ist freundlich gegen den, der auf ihn wartet und zu dem Menschen, der ihn sucht."

Zu Herzen nehmen - die gute Zeit vor dem Unglück, vor der Zeit der Katastrophe und die Kontinuität und die Normalität wiederfinden. Ein gelerntes Lied, ein Spruch taucht auf und tröstet uns und führt uns weiter.

Gott wird an seine Verheißungen erinnert.

Was uns der Mann aus seinem eigenen Erleben erzählt, wie er das Elend gesehen hat und schließlich gelernt hat zu sehen - das würden Therapeuten auch gut heißen. Anknüpfen an die Zeit davor, ohne einfach weiterzumachen wie bisher. Ob das Morgenlied "All Morgen ist ganz frisch und neu" jemals wieder so klingen wird wie früher?

Vielleicht sehen Sie jetzt, wie gut es war, daß einer aufgestanden ist, der das Elend am eigenen Leib erlebt hat. Der selber dringesteckt hat und durchgehen mußte. Nur solchen Menschen können wir glauben. Es ist gut, wenn wir einander erzählen, was wir durchmachen mußten und wie wir es überstanden und überlebt haben. Hinterher verstehe ich, daß dieser junge Mann aufgestanden ist, um zu trösten, um Mut zuzusprechen und um den Glauben zu stärken. Dabei ist es ihm selber auch besser gegangen.

Aber es ist sein eigener Weg - jeder und jede muß seinen eigenen Schritte gehen, aber braucht auf die Hilfe von anderen nicht zu verzichten.

Wer war wohl dieser Mann?

Das werden wir kaum erfahren können.

Aber für mich ist es wichtig, daß Gott selbst überrascht war von dem Glauben von Menschen wie Hiob oder eben unserem jungen Mann. Er wußte, daß glaubwürdig nur ist, wer selber etwas erfahren hat von dem Leid unter uns Menschen. Was wissen die Götter schon von uns? Gott wollte auch sagen können: "Ich bin der Mensch, der das Elend gesehen hat:"

Daher glauben wir, daß er seinen Sohn geschickt hat, der Mensch geworden ist wie wir.

Jesus starb elend wie der unterste Mensch - mit dem Klageruf aus Psalm 22: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Wir wissen, daß dieser Ruf nicht ungehört blieb.

Ich bete das Ende des dritten Klageliedes.

"Wir werden gedrückt und geplagt mit Schrecken und Angst.
Wasserbäche rinnen aus meinen Augen über den Jammer.
Meine Augen fließen und können nicht aufhören, es ist kein Aufhören da,
bis der Herr vom Himmel herabschaut und darein sieht.
Wasser hat mein Haupt überschwemmt, da sprach ich:
Nun bin ich verloren.
Ich rief aber den Namen des Herrn an, unten aus der Grube
Und du hörtest meine Stimme:
"Verbirg deine Ohren nicht vor meinem Seufzen und Schreien!"
Du warst nahe als ich dich anrief, du hast gesprochen:
Fürchte dich nicht!
Da hast du Herr, meine Sache geführt und mein Leben errettet."

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN